Wo ist der Skandal?
Gibt es einen «Fall Berset», oder gibt es einen «Fall Ringier», oder gibt es gar einen «Fall CH Media»? Oder müsste die Frage eher heissen: Wo ist der Skandal?
Vorab eine kleine Schlaufe: Beim US-Präsidenten Joe Biden wurden zuhause geheime Dokumente entdeckt, dies im Rahmen einer Hausdurchsuchung. Joe Biden wird deswegen sicher nicht als Präsident abgesetzt, aber er hat den Vorsprung verspielt, den er zuvor zu haben schien, weil bei seinem Vorgänger eben genau dasselbe geschehen war. Es ist offensichtlich, dass es bei dieser Politposse um Wahlkampf geht.
Damit zurück in die Schweiz. Zweifellos gehört es zu den geheimen Träumen jedes Journalisten, jeder Journalistin in diesem Land, einmal einen Bundesrat (oder tendenziell einfacher: eine Bundesrätin) aus dem Amt zu schreiben. Nun hat der Zufall (wer denn sonst?) CH-Media-Chefredaktor Patrik Müller und seinem Redaktor Francesco Benini die Mails von Peter Lauener, damals Kommunikationschef in Bersets Departement, an Marc Walder, CEO von Ringier, in die Hände gespielt. Auf nicht weniger als drei Zeitungsseiten haben die beiden einen Skandal skizziert, der schwere Verstösse gegen die Vertraulichkeit erahnen liess. Der Aufwand hat sich gelohnt: Die Affäre begann zu drehen, anfänglich eher gegen Berset, dann vorübergehend gegen Ringier, seit dem Wochenende sehr deutlich wieder gegen Berset. Dass auch SRF sich bemüssigt fühlte, gleich den «Club» und die «Arena» diesem Thema zu widmen, zeigt vor allem, dass die beiden Sendungen es nach wie vor nicht schaffen, ihre Profile ausreichend gegeneinander abzugrenzen.
Letzten Samstag holten die CH-Media-Schreiber zum nächsten Schlag aus und druckten Faksimile (also Kopien) aus den Mails ab. Möglich, dass das als Steigerung funktionierte. Meines Erachtens sind sie aber die Illustration dafür, dass der Skandal schlicht nicht existiert. Lauener schrieb Walder, dass er ihm Informationen vermitteln wolle; Lauener bot Walder ein Interview mit Berset an; Lauener teilte Walder die Themen mit, die an der nächsten Bundesratssitzung behandelt werden sollten. Ausser dem letzten Punkt, der sich wohl an der Grenze des Zulässigen bewegt, handelt es sich bei diesen Mails: schlicht um die Kernaufgabe eines Kommunikationsleiters. Aufmerksamkeit für die Themen seines Chefs schaffen, diesen möglichst gut in den Medien platzieren, um seine Themen und seine Person möglichst gut dastehen zu lassen. Wer das in dieser Funktion nicht tut, hat den Beruf verfehlt. (Das schreibe ich durchaus aus persönlicher Erfahrung.)
Nochmals eine Schlaufe: Erinnern Sie sich noch an den langen Artikel in den CH-Media-Zeitungen, in dem der ehemalige Fifa-Präsident Sepp Blatter sich weiss waschen konnte? Eben. Da hat jemand im Hintergrund seine Aufgabe gut gemacht.
Die Geschichte rund um Peter Lauener hat eine juristische Komponente: Inzwischen muss bereits der dritte ausserordentliche Bundesanwalt eingesetzt werden, da ja alles eigentlich mit der Crypto-Affäre begonnen hat und gar nicht klar ist, ob die jetzt publizierten Mails überhaupt in die Hände der Justiz hätten geraten dürfen. Und weil dann das ganze Verfahren laufend wieder an die Öffentlichkeit getragen wurde (was dann wieder gegen irgendein Amtsgeheimnis verstossen hat – oder auch nicht), ermitteln nun die Bundesanwälte einer gegen den nächsten. Das hat zwei Auswirkungen: Bis zu einem rechtskräftigen Entscheid werden erstens Jahre vergehen, und damit bleibt das Thema zweitens immer in den Medien.
Aber natürlich geht es beim Ganzen in erster Linie um Politik. Alain Berset hat in den Corona-Jahren viel Aufmerksamkeit erhalten; die öffentliche Meinung ist eindeutig: Er hat seine Sache in dieser Zeit ausgezeichnet gemacht und die Schweizer Bevölkerung souverän durch diese schwierigen Jahre, durch eine bisher unbekannte Krisensituation geführt. (Ja, es gibt eine Gruppe von Menschen, die das anders sehen, aber es sind wenige, und dass es da Leute dabei hat, die glauben, die Erde sei eine Scheibe, macht es nicht wirklich besser.)
Ich unterstelle Patrik Müller und Francesco Benini nicht, dass sie es ausschliesslich auf Alain Berset abgesehen haben. Ich traue ihnen gerne zu, dass sie eine gleich Kampagne auch gegen Guy Parmelin geführt hätten, wären denn gleiche Informationen zu ihnen gelangt. (Weshalb das eher unwahrscheinlich ist, wäre dann wieder eine weitere Geschichte: Wer eine Indiskretion gegen Parmelin plant, wird andere Medien seines Vertrauens haben...)
Ich zweifle nicht daran, dass wer auch immer die Indiskretion begangen und die Mails den beiden Journalisten zugespielt hat, eine politische Absicht hatte: Den populärsten, stärksten Bundesrat in diesem Wahljahr zu unterwandern, zu schwächen – und seine Partei gleich mit. Es hat funktioniert.