«Es wäre schön, wenn zumindest jede zweite Person ihr Stimmrecht nutzen würde.»

Die Abstimmungsvorlagen vom 28. September haben zwar rund 50 Prozent der Stimmbevölkerung mobilisiert. Bei den kantonalen Wahlen vor einem Jahr (im Kanton Aargau) bzw. im Frühling (Kanton Solothurn) lag der Wert aber bei teils knapp über 30 Prozent. Wer bleibt der Urne fern und wie kann man im Kanton Leute mobilisieren? Co-Präsident Fabian Gressly hat sich darüber mit Vorstandsmitglied Raffael von Arx unterhalten. Er arbeitet bei Discuss it, wo man sich für die Förderung der politischen Bildung junger Menschen engagiert und wirkt im Vorstand im Bereich Bildung mit.
Fabian Gressly: Wir haben einige Wahlen und Abstimmungen hinter uns, in denen die jeweils sehr tiefe Beteiligung auffiel. Sie lag bei 35,6 bzw. 32,6 Prozent bei Kantonalen Wahlen, bei Abstimmungen oft noch tiefer. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung beteiligen sich also nicht am politischen Prozess. Ist das alarmierend oder einfach eine Momentaufnahme?
Raffael von Arx: Alarmierend ist es allemal, neu ist dieser Befund aber nicht. Die historisch tiefste Wahlbeteiligung bei nationalen Wahlen lag 1995 bei gerade mal 42 Prozent. Seither pendelt sie zwischen 45 und 48 Prozent. Spannend ist ausserdem, dass die Wahlbeteiligung 1979 erstmals unter die 50-Prozent-Grenze fiel und dass Anfang des 20. Jahrhunderts noch weit über 70 Prozent der Stimmenden, genauer gesagt der Männer, an die Urne ging (1). Auf kantonaler Ebene ist die Situation prekärer. Nehmen wir den Kanton Solothurn als Beispiel, so betrug die kantonale Wahlbeteiligung in diesem Frühling gerade mal 36 Prozent. Dies war ein guter Test, um zu sehen, wie gross das Interesse seitens Bevölkerung für Kantons- und Regierungsrat ist, denn vier Jahre zuvor betrug die Wahlbeteiligung 44 Prozent. Doch damals wurden auch über nationale Vorlagen wie das Verhüllungsverbot – mit einer Stimmbeteiligung in Solothurn von 52 Prozent – abgestimmt. Deshalb ist davon auszugehen, dass die kantonalen Wahlen 2021 von der Sogwirkung der nationalen Vorlagen profitierten. Es gibt also eine sehr klare Hierarchie: Die nationale Ebene ist relativ gesehen die bedeutendste und die kantonale Ebene erscheint in den Augen der Stimmbevölkerung als weniger wichtig. Für unsere Demokratie wäre es auf jeden Fall erstrebenswert, in Zukunft wieder die 50-Prozent-Grenze zu knacken. Wäre es nicht schön, sagen zu können, dass zumindest jede zweite Person ihr Stimmrecht nutzt, um sich politisch einzubringen? Während dies auf nationaler Ebene eher möglich ist, ist es auf kantonaler Ebene noch ein weiter Weg.
Fabian Gressly: Das Erreichen der Leute ist das eine. Sie an die Urne bringen, das andere. Was braucht es für letzteres?
Raffael von Arx: Es muss sich ein Habitus entwickeln. Wie so oft im Leben, geschieht vieles über Gewohnheiten. Das Abstimmen und Wählen – oder ganz generell das regelmässige Informieren, Befassen mit Politik – muss geübt und gelernt werden. Hierbei wissen wir aus der Forschung, dass das Elternhaus entscheidend ist. Bei Jugendlichen, die das von Zuhause nicht mitbekommen, kann die Schule eine wichtige Funktion übernehmen. Die politische Bildung ist in den Lehrplänen gut verankert, im schulischen Alltag kommt sie aber weiterhin oft zu kurz. Zudem ist vieles von einzelnen Lehrpersonen abhängig, die Parlamentsbesuche, Podiumsdiskussionen oder sonstige Projekttage organisieren. Wenn solche Lehrpersonen die Schule irgendwann verlassen, kann es zu einem Vakuum kommen. Um dies zu verhindern, braucht es gute Strukturen an den Schulen. Im Idealfall hat eine Schule mehrere Personen im Lead, die sich gut in politischer Bildung auskennen und die andere Lehrpersonen coachen und befähigen können, Politik im Alltag zu unterrichten. So entsteht auch eine Schulkultur bzw. eine Selbstverständlichkeit, dass Politik zum Alltag der Schule gehört.
Fabian Gressly: Experten führen oft zwei Erklärungsansätze für tiefe politische Beteiligung ins Feld: Wer nicht wählt oder stimmt, ist zufrieden und es muss sich gar nichts ändern. Deshalb gehen sie nicht an die Urne. Oder: Wer ihr fernbleibt, hat das Interesse verloren, resigniert, weil sich eh nichts ändert. Was siehst Du als Grund?
Raffael von Arx: Es gibt in der Tat unterschiedliche Typen von Wahlabstinenz, die in der Forschung eruiert werden. Eine weitere Gruppe fühlt sich schlichtweg nicht kompetent genug (2). Gerade bei jungen Menschen ist diese Gruppe besonders verbreitet. Denn viele junge Menschen sind weder uninteressiert noch politikverdrossen. Auch denke ich, sind sie nicht per se der Meinung, dass alles gut läuft. Vielen fehlt aber der Zugang zur Politik und das Verständnis, wie die Politik ihren Alltag beeinflusst. Hier tragen die Eltern, die Schulen und die Gesellschaft als Ganzes die grosse Aufgabe, die nächsten Generationen daran heranzuführen und Politik immer wieder aufs Neue sichtbar und fassbar zu machen.
Fabian Gressly: Man kann ja aber nicht behaupten, Junge seien komplett apolitisch. Immerhin gabs einmal «Fridays for Future», wo Massen mobilisiert wurden. Auch andere politische Themen bewegen. Wo liegt der Unterschied?
Raffael von Arx: Es gibt keine Generation, die so unterschiedlich aufgewachsen ist und lebt wie die heutige Generation Z. Entsprechend äussert sie sich politisch auch sehr verschieden. Gerade in Bezug auf die Schultypen zeigen sich frappante Unterschiede: Maturand:innen beteiligen sich an Wahlen und Abstimmungen bis zu drei Mal mehr als Berufslernende. Das bedeutet konkret, dass an Berufsschulen ein deutlich höheres Potential vorhanden ist, mehr Jugendliche zu mobilisieren (3).
Fabian Gressly: Auch in den Gesprächen, die wir von der SRG AG SO mit kantonalen Politiker:innen geführt haben, dominierte eine Frage, die beide gleichermassen beschäftigt: Wie erreicht man Junge?
Raffael von Arx: Über Interaktion. Egal ob am Küchentisch, an der Gemeindeversammlung oder auf Social Media, junge Menschen mögen lebendige, kontroverse und zugleich respektvolle Diskussionen. Wenn die Politikerinnen und Politiker es zudem schaffen, authentisch und nahbar zu sein, umso besser! Denn das oberste Ziel muss sein: Jungen Menschen ein positives Erlebnis mit der Politik zu ermöglichen.
Fabian Gressly: Nochmals grundsätzlich: War es denn nicht immer so, dass die Jugend (noch) recht wenig politisch interessiert ist?
Raffael von Arx: Die kurze Antwort ist: Ja! Die längere und etwas hoffnungsvollere Antwort zielt darauf ab, dass wir es schaffen müssen, den jungen Erwachsenen von Beginn weg aufzuzeigen, dass sie Verantwortung tragen und die Gesellschaft auf ihre Mitwirkung zählt.