Wenn der Filter verstopft
Journalistinnen und Journalisten sollten Informationen filtern und kuratieren, damit das Publikum erfährt, was wirklich wichtig ist. Zuweilen ist diese «Filter-Funktion» eine echte Herkules-Aufgabe. Oder schlicht unmöglich. Ein aktuelles Beispiel.
Medien gelten als «die vierte Macht» im Staat. Sie sollen das Treiben von Regierung, Parlament und Justiz kritisch begleiten und die Bürgerinnen und Bürger möglichst verständlich informieren darüber. Diese «Wächterfunktion» gestaltet sich nicht immer ganz einfach. Viele Vorgänge bleiben den Redaktionen nämlich verborgen.
Kommissionssitzungen des Kantonsparlaments zum Beispiel sind geheim, im Aargau sind auch bei den Regierungssitzungen keine Gäste zugelassen (im Gegensatz zum Kanton Solothurn). Berichten können wir nur darüber, was Regierung und Kommissionen im Anschluss an ihre Sitzungen per Mitteilung publizieren, alle anderen Themen bleiben uns verborgen. Man könnte also durchaus monieren, es fehle hier an Transparenz. Es gibt aber auch transparente Bereiche im öffentlichen Leben, die uns trotzdem Mühe machen: Die Justiz ist dafür ein gutes Beispiel.
Die schwierige Suche nach den spannenden Fällen
Die Justiz hat sich in den letzten Jahren aus meiner Sicht vorbildlich um mehr Transparenz bemüht. Inzwischen haben die Gerichte zum Teil Medienbeauftragte, die sich um Fragen und Anliegen von Journalistinnen und Journalisten kümmern. Bei öffentlichkeitswirksamen Prozessen (wie z.B. im «Fall Rupperswil») bemühen sich die Gerichte auch mal um grössere Räume, damit ausreichend Platz für die Medienvertreterinnen vorhanden ist. Im Grundsatz sind Gerichtsverhandlungen öffentlich, man darf sie also besuchen.
Wie aber erfahren wir eigentlich davon, wenn ein «grosser Fisch» - eine Millionen-Betrügerin oder ein Mörder – vor Gericht antraben muss? Wie können wir also beurteilen, an welchen Verhandlungen auch eine Reporterin oder ein Reporter unserer Redaktion anwesend sein sollte? Die Verhandlungskalender der Gerichte sind online publiziert. Transparent – und doch nicht ganz einfach.
Da steht dann nämlich zum Beispiel: «14.9.2021, 08:00 Uhr, 1.5 Stunden, Strafgericht 1, Präsidium: Widerhandlung gegen das AIG, Einsprache». Unsere Themenplanerinnen oder Tageschefs müssen nun also recherchieren: Was ist eine Widerhandlung gegen das AIG?
Es ist eine Widerhandlung gegen das «Ausländer- und Integrationsgesetz». Ist das spannend, relevant? Ist dieser Prozess so wichtig, dass wir einen von unseren drei Reporterdiensten deswegen nach Laufenburg ans Bezirksgericht schicken wollen? Wahrscheinlich eher nicht. Aber ganz sicher können wir erst sein, wenn wir telefonisch beim Bezirksgericht anfragen und versuchen herauszufinden, welche Geschichte sich hinter diesem «Delikt» verbirgt. Ein grosser Aufwand für unsere kleine Redaktion. Es sind Dutzende von Gerichtsverhandlungen angesetzt, Woche für Woche.
Mehr Transparenz bei der «Blackbox Strafbefehle»
Noch viel dramatischer ist die Situation in einem – häufig kritisierten – anderen Bereich der Justiz: Die meisten «Verurteilungen» werden nämlich nicht von Gerichten vorgenommen, sondern von Staatsanwaltschaften. Diese verschicken täglich Hunderte von sogenannten «Strafbefehlen». Bisher eine Blackbox: Informiert wurde über Strafbefehle – verständlicherweise, wenn man die grossen Zahlen betrachtet – nur sehr selektiv durch die Medienstellen der Staatsanwaltschaften.
Nun bemüht sich die Aargauer Staatsanwaltschaft auch in diesem Bereich um mehr Transparenz. Neuerdings erhalten wir jeden Monat eine Zusammenstellung aller «in Rechtskraft erwachsenen» Strafbefehle. Es sind in der Regel kleinere Vergehen, die auf diesem Weg «erledigt» werden. Es geht zum Beispiel um «Übertretung der Höchstgeschwindigkeit ausserorts um 21-29 km/h» oder «innerorts um 16-24 km/h» oder «Übertretung nach Artikel 19a Betäubungsmittelgesetz» (unbefugter Anbau von Betäubungsmitteln, also Hobby-Hanfbauern).
Es geht in Strafbefehlen aber auch um «betrügerischen Konkurs», «Geldwäsche», «Vergehen gegen das Waffengesetz» oder um «Drohung gegen Beamte», was durchaus spannend sein könnte. Nur: Ist es das wirklich? Wir könnten uns gemäss Weisungen der Staatsanwaltschaft melden, wenn wir uns für einen «Fall» interessieren. Dann würde uns Akteneinsicht gewährt. Vorbildliche Transparenz also – zumindest auf den ersten Blick.
Wenn die Wahl zur Qual wird
Nur: Allein im August 2021 wurden im Aargau über 900 Strafbefehle rechtskräftig. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, aus dieser Flut an Strafbefehlen die wirklich relevanten und spannenden Geschichten für unser Publikum zu finden. Wir müssten wohl ein ganzes Heer von Praktikantinnen und Praktikanten beschäftigen, die sich nur um Strafbefehle kümmern, wenn wir in diesem Bereich «nichts verpassen» möchten.
Kurz und gut: Transparenz ist wichtig. Aber diese Art der «totalen Transparenz», also die Publikation von Hunderten von Entscheiden mit relativ nichtssagenden Titeln, ist für Medien nur bedingt hilfreich. Eine Filterung durch die Medienverantwortlichen der Justiz wäre hilfreich – allerdings läge dann ja die Entscheidung darüber, was für die Öffentlichkeit relevant ist, wieder bei der Justiz und nicht bei uns Medienschaffenden. Eine schwierige Situation.
Klar: Wenn wir davon erfahren, dass zum Beispiel gegen eine Person von öffentlichem Interesse (eine gewählte Politikerin oder ein Richter) eine Untersuchung der Staatsanwaltschaft läuft, dann «hängen wir uns dran». Wir verlangen von der Medienstelle, dass sie uns über den Ausgang des Verfahrens (eben ein Strafbefehl oder eine Einstellungsverfügung) informiert – was häufig auch problemlos passiert. Aber in vielen Fällen – so ist zu vermuten – verpassen wir wohl potenzielle Geschichten, weil wir sie schlicht nicht entdecken in der Flut der publizierten Strafbefehle.
Die Fülle an verfügbaren Informationen in der modernen Welt ist also nicht nur für unser Publikum manchmal kaum zu verarbeiten, sondern auch für uns Journalistinnen und Journalisten. Wenn zu viel Information vorhanden ist, dann verstopft der Filter der vierten Macht im Staat.
Die «richtige Transparenz» ist wohl zu teuer
Es gäbe durchaus eine bessere Lösung für mehr Transparenz, aus unserer Sicht. Das Solothurner Obergericht hat sich für diesen Weg entschieden: Hier werden die Urteile von Verwaltungsgericht, Zivil- und Strafkammern – in anonymisierter Form natürlich – alle online gestellt. Also nicht nur der Titel der Urteile, sondern die ganze Urteilsschrift. Und zwar nicht monatlich, sondern täglich. In «verdaubaren Portionen» für unsere kleine News-Redaktion. Hier können wir also täglich prüfen, ob es bei der kantonalen Justiz im Kanton einen für unser Publikum relevanten oder interessanten Fall gibt... und ja, immer mal wieder werden wir so fündig.
Allerdings: Das Solothurner Obergericht hat im August 2021 «nur» rund 30 Fälle publiziert. Die Aargauer Staatsanwaltschaft (und mit ihr viele andere) sagt in Bezug auf die Strafbefehle, dass eine anonymisierte Publikation aller rund 1000 Entscheide pro Monat einfach viel zu aufwändig sei. Dafür habe ich als Steuerzahler sogar Verständnis.
Vielleicht hilft uns in Zukunft die künstliche Intelligenz? Ein Computer, der juristische Schriften automatisch «anonymisieren» kann, wäre für Justiz und Medien jedenfalls eine wirklich hilfreiche Erfindung.