Corona-Lagebulletin des Kantons Aargau.

Datensalat und Meinungsflut

Die Corona-Krise ist eine Herausforderung für Journalistinnen und Journalisten. Sie sind konfrontiert mit komplexer Wissenschaft, unvollständigen Datensätzen, mehr oder weniger gut belegten Meinungsäusserungen, Verunsicherung in der Bevölkerung. Wie geht eine Regionalredaktion von SRF damit um?

Ob Südkorea oder Schweden die Pandemie besser im Griff haben, welche Rolle Bill Gates oder Donald Trump spielen und wie wirksam genau Schutzmasken sind – solche viel diskutierten Fragen betreffen uns als Regionalredaktion nur indirekt. Und doch: Auch im regionalen Journalismus hat die Corona-Krise neue, schwierige Fragen aufgeworfen.

In «normalen Zeiten» ist die Aufgabe von uns Journalist/innen als «vierte Gewalt im Staat» relativ klar: Wir erklären der Bevölkerung einerseits politische Vorgänge und ordnen diese ein, andererseits stellen wir den Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern kritische Fragen aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger. In der Krise kommt eine neue Dimension dazu: Wir alle fühlen uns verunsichert.

Eine neue Verantwortung
Die auch von Medienwissenschaftlern zum Teil aufgeworfene Kernfrage lautet deshalb plötzlich: Wie viel Unsicherheit soll Journalismus streuen dürfen oder sogar müssen? Plötzlich tragen wir als Redaktion zumindest gefühlt so etwas wie eine Verantwortung für den psychosozialen Zustand der Gesellschaft. Das war für mich neu und ungewohnt.

Ich habe vor allem zu Beginn der Corona-Krise zwei Reflexe im Journalismus beobachtet: Den Reflex, beruhigende Wirkung entfalten zu wollen mit der eigenen Berichterstattung, also Anweisungen und Aussagen der Behörden möglichst ungefiltert verbreiten, damit nicht noch mehr Unsicherheit entsteht. Und genau das Gegenteil: Möglichst viele kritische Fragen zu stellen, den Behörden grundsätzlich kein Vertrauen entgegenzubringen, möglichst immer Argumente für die gegenteilige Meinung zu finden.

Beide Reflexe – wie es bei Reflexen häufig so üblich ist – scheinen mir wenig zielführend zu sein. In unserer Redaktion haben wir deshalb immer wieder bewusst einen Mittelweg gesucht zwischen den beiden Extrempositionen. Mit aus meiner Sicht – wie immer im Journalismus – nicht durchgehendem, aber immerhin teilweisem Erfolg.

Stufe 1: Sprachliche Präzision
Eine der grossen Fragen: Das Ausmass der Pandemie. Wie stark ist unsere Region eigentlich betroffen? Die publizierten Zahlen liefern bis heute keine abschliessende Antwort. Nicht die ganze Bevölkerung wird getestet, nicht alle relevanten Zahlen werden veröffentlicht. Wir hätten aus diesem Grund auf die Meldung von «Fallzahlen» in unseren Kantonen verzichten können. Und wir haben tatsächlich eher zurückhaltend über diese Zahlen berichtet, weil wir um deren mässige Aussagekraft wussten. Doch ein vollständiger Verzicht auf diese Information konnten und wollten wir im Interesse des Publikums dann doch nicht.

Dabei haben wir uns bemüht, die Zahlen wenigstens sprachlich präzise einzuordnen. Wenn es in der Statistik des Kantons heisst, dass «13 neue bestätigte Fälle» vorliegen, dann heisst das eben nicht, dass sich «13 Personen mit Corona infiziert» haben. Es heisst nur, dass bei 13 Personen am Vortag ein positiver Test durchgeführt wurde. Wie viele sich sonst noch angesteckt haben, vielleicht ohne Krankheitssymptome, sicher aber ohne Test, das wissen wir ja nicht.

Unser Redaktor Stefan Ulrich hat sich nach einigen Wochen sogar die Aufgabe vorgenommen, die Grössenordnung dieser Corona-Pandemie im Kanton Aargau einzuordnen. Er hat dazu verschiedene Statistiken konsultiert und verglichen, mit Fachpersonen gesprochen. Zugegeben: Ich habe einiges gelernt nach seiner Recherche. Aber die Frage, wie «schlimm» diese Pandemie im Vergleich zu anderen genau ist und ob in diesem Licht die Massnahmen dagegen erfolgreich und gerechtfertigt sind, diese Fragen haben wir noch immer nicht abschliessend beantworten können.

Bildungsdirektor des Kantons Aargau, Alex Hürzeler, an einer Medienkonferenz.

Stufe 2: Fragen, fragen, fragen
Wer sucht, der findet. Nur wer Fragen stellt, erhält auch Antworten. Natürlich: Das ist eine Binsenwahrheit, journalistische Basisarbeit. Aber sie erhält in einer solchen Zeit eine noch grössere Bedeutung. Wir hatten als Journalisten selbst viele Fragen, aus dem Publikum wurden ungewöhnlich viele Fragen an uns herangetragen, wir haben an Redaktionssitzungen darüber diskutiert, welche Fragen die Bevölkerung wohl aktuell am meisten umtreibt. Und immer wieder sind wir mit diesen Fragen zu Behörden, zu Fachstellen, zu Betroffenen, haben Antworten gesucht.

Da gab und gibt es auch kritische Fragen, die gestellt werden mussten und müssen. Halt im Rahmen der regionalen Berichterstattung. Also nicht die Frage: Ist das Virus schädlich? Solche Fragen stellt die Wissenschaftsredaktion. Aber Fragen wie: Macht es Sinn, dass die Kantonsregierung der Polizei per Verordnung eine praktisch grenzenlose Videoüberwachung ermöglicht oder sind die Kriterien für Nothilfe-Gelder wirklich richtig gewählt, so dass die betroffenen Berufsgruppen davon sinnvoll profitieren können?

Die Antworten waren und sind nicht immer befriedigend. In einigen Fällen waren die Antworten schlicht keine wirklichen Antworten. Beispiel: Wie sind die Schulen nach der Wiedereröffnung organisiert? Antwort der Kantone: Jede Schule, jede Gemeinde hat eine individuelle Lösung. Natürlich hätten wir den vielen Eltern und Grosseltern gerne über Radio und News-App in einfachen Worten erklärt, was jetzt allgemein gilt. Aber es gab und gibt keine einheitlichen Regelungen. Nur das konnten mit unserem Publikum mitteilen.

Stufe 3: Meinungen als Meinungen stehen lassen
Wer die allgemeine Wahrheit nicht kennt, kann zumindest bewusst Ausschnitte der Wahrheit zeigen. Einzelfälle, natürlich immer klar und deutlich als solche deklariert. Weil wir den Stand der Digitalisierung an unseren Schulen nicht allgemeingültig einordnen konnten, haben wir Beispiele gezeigt, wie Kinder ihre Hausaufgaben erhalten. Per Videokonferenz, per Chat oder ganz analog per Post. Damit haben wir kein vollständiges Bild der Realität gezeichnet, aber immerhin eine grobe Skizze vermittelt.

Und wenn die Wahrheit schlicht umstritten ist, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als die verschiedenen Meinungen dazu abzubilden. Parteien, welche die Videoüberwachung der Polizei kritisieren und die Regierung, die sie verteidigt. Berufsleute, welche sich über Kredit-Kriterien ärgern und Behörden, welche ihre Regelungen begründen.

Manchmal ist die «Wahrheit» eben eine Frage der Perspektive. Das gilt nicht nur in der Krise, aber in der Krise ganz besonders. Und manchmal ist die Grenze des seriösen Journalismus eben erreicht, wenn man diese Perspektiven darstellt und dem Publikum klarmacht, dass es nur Perspektiven und Meinungen sind. Weil es die «wahre» Antwort schlicht nicht gibt.

Stufe 4: Die Mischung macht’s
Mehr als üblich hat mein Team aber auch über die Frage diskutiert, welche «Stimmung» wir in einer Sendung oder in unseren Online-Artikeln vermitteln wollen. Wie «positiv» oder «negativ» unsere Berichterstattung insgesamt wirken soll. Wir haben bewusst Kontrapunkte gesetzt: Die leidenden Gewerbetreibenden gezeigt, aber auch die glücklichen Firmenbesitzer, welche von der Krise profitieren.

Überhaupt bleiben mir vor allem diese persönlichen Geschichten aus der Corona-Zeit haften. Die Dame aus dem Altersheim, welche «die Ruhe» im Heim während der Krise genossen habe. Die Bauersfrau, welche ihre Setzlinge nicht mehr auf dem Markt verkaufen darf, sich aber über Kundschaft auf ihrem Hof freut.

Fazit: Journalismus – auch in einer Regionalredaktion – ist kein einfacher Job in dieser Corona-Krise. Aber die Krise ist auch eine gute Gelegenheit, um grundsätzliche publizistische Fragestellungen wieder intensiver zu reflektieren und zu diskutieren. Ich glaube deshalb, dass meine Redaktion insgesamt gestärkt aus dieser Krise geht. Mit einem noch bewussteren Umgang mit unserer journalistischen Verantwortung – in Krisen und «normalen Zeiten».